Kernspaltung
Die Kerntechnik ist noch relativ jung: Die ersten Kernkraftwerke gingen vor gut 60 Jahren ans Netz. Seither wurde die technische Entwicklung der Kernenergie stark vorangetrieben. Fachleute sprechen von verschiedenen Generationen von Kernkraftwerken.
Kernenergie für die Welt von übermorgen
Viele der neuen oder heute im Bau befindlichen Kernkraftwerke gehören der dritten Generation an. Diese fortgeschrittenen Reaktortypen sind noch sicherer als die heute betriebenen Anlagen. In vielen Ländern werden sie in den kommenden Jahren ältere Kernkraftwerke ablösen und bestehende Kraftwerkparks verstärken. Vor allem asiatische Länder mit stark zunehmendem Energiebedarf setzen auch aus Umweltschutzgründen auf Kernenergie für ihre zukünftige Stromversorgung.
Aber bereits heute forschen Wissenschaftler an Kernkraftwerken der vierten Generation für die Welt von übermorgen. Zusammen mit den erneuerbaren Energien bilden diese völlig neuartigen Kraftwerke den Schlüssel zur Sicherung der Lebensgrundlagen der Menschheit in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts.
Generation vier: neue Wege bei der Kernspaltung
Bei ganzheitlicher Betrachtung aller heute zur Verfügung stehenden Energiequellen zeigt sich: Eine Stromversorgung mit Einbezug der Kernenergie ist umweltschonender und klimafreundlicher als diejenige ohne, heute wie in Zukunft. Das belegen auch die von Wissenschaftlern erarbeiteten Ökobilanzen.
Eine Reihe von Industrieländern, darunter auch die Schweiz, hat sich deshalb auf Initiative der USA zum «Generation IV International Forum» (GIF) zusammengeschlossen (auch Randspalte rechts). Das Ziel des Forums ist, für die Zeit nach 2030/40 grundlegend neue Reaktoren und Kernbrennstoffe zu entwickeln, die
- wie die Generation drei höchste Sicherheit und Wirtschaftlichkeit bieten;
- den Uranverbrauch drastisch reduzieren;
- die Menge und Lebensdauer des radioaktiven Abfalls erheblich vermindern;
- den Missbrauch der friedlichen Kerntechnik für Kernwaffen noch weiter erschweren.
Aus über 130 Vorschlägen aus der ganzen Welt haben die Fachleute des GIF sechs innovative Reaktorsysteme ausgewählt, die das Potenzial haben, diese Ziele zu erreichen:
- Schneller, gasgekühlter Reaktor
Merkmale: Helium als Kühlmittel, 850 Grad Celsius Betriebstemperatur, div. Brennstoffoptionen. Einheiten von 200 bis 1200 Megawatt elektrisch möglich.
Vorteil: hohe Effizienz, starke Abfallreduktion, hohe Brennstoffausnutzung. - Höchsttemperaturreaktor
Merkmale: Helium als Kühlmittel, Betriebstemperatur über 900 Grad, Brennstoff Uran und Thorium in Form von Kugeln mit Graphithülle als Moderator. Einheiten von 250 Megawatt elektrisch vorgesehen.
Vorteil: hoher Wirkungsgrad (50 Prozent), ideale Prozesswärmeerzeugung, Wasserstoffproduktion möglich, sehr hohe passive Sicherheit (Kernschmelze unmöglich). - Überkritischer Leichtwasserreaktor
Merkmale: Kühlmittel Wasser in überkritischem Zustand (über 374 Grad und 22,1 Megapascal), Betriebstemperatur 500-600 Grad. Einheiten von 1500 Megawatt elektrisch vorgesehen.
Vorteile: Wirkungsgrad gegen 45 Prozent, hohe Wirtschaftlichkeit, thermisches oder schnelles Neutronenspektrum möglich. - Schneller, natriumgekühlter Reaktor
Merkmale: Natrium als Kühlmittel. Metallischer Brennstoff oder MOX. Modulare Kleineinheiten ab 50 bis 1500 Megawatt elektrisch möglich.
Vorteil: hohe thermische Effizienz, Aktinidenverbrennung, effiziente Spaltmaterialproduktion. - Schneller, bleigekühlter Reaktor
Merkmale: Blei als Kühlmittel, transportable Kleinsteinheiten möglich, Lebensdauer des Reaktorkerns 15 bis 30 Jahre. Modulare Kleineinheiten ab 50-1200 Megawatt elektrisch möglich.
Vorteile: äusserst proliferationsresistent, hohe passive Sicherheit, ersetzbarer Reaktorkern anstelle Brennstoffnachladung. - Flüssigsalzreaktor
Merkmale: flüssige Fluoride von Uran und Plutonium als Kühlmittel. Geringer Druck. Einheiten von 1000 Megawatt elektrisch vorgesehen.
Vorteil: Abfallminimierung, einfache Brennstoffproduktion, hohe Proliferationsresistenz durch geringes Spaltmaterialinventar.
Bis zum kommerziellen Einsatz der sechs innovativen Reaktorsysteme der vierten Generation ist bei allen Systemen aber noch einiges an Forschung nötig. Von den sechs Systemen am Weitesten fortgeschritten ist der Höchsttemperaturreaktor. Ein Kernkraftwerk dieses Typs befindet sich seit 2012 in China in Bau. Der sogenannte HTR-PM soll demnächst in Betrieb gehen. Details in englischer Sprache zu den oben erwähnten Reaktoren der Zukunft finden Sie hier.
Beteiligt am GIF sind zurzeit 14 Partner: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Frankreich, Grossbritannien, Japan, Kanada, Russland, die Schweiz, Südafrika, Südkorea, die USA und die Europäische Atomgemeinschaft Euratom.
Die Schweiz trägt durch das am Paul Scherrer Institut (PSI) angesiedelte Projekt FAST zum System SFR (natriumgekühlter schneller Reaktor) bei. Dieses Projekt befasst sich mit der Computersimulation der wichtigsten GIF-Systeme mit schnellen Neutronenspektren in Kombination mit offenen und geschlossenen Brennstoffkreisläufen. Die Aufgabe besteht darin, die verschiedenen Systeme zu vergleichen und unter den Gesichtspunkten Sicherheit, Ressourcenmanagement und Abfallreduzierung zu optimieren. Die Aktivitäten sind in verschiedene Programme von EURATOM und IAEO integriert. Ebenso vertreten ist die Schweiz mit dem PSI in den Systemen VHTR (Höchsttemperaturreaktor) und GFR (schneller, gasgekühlter Reaktor).
Mehr Brennstoff erbrüten als verbrauchen
Fünf der vom GIF ausgewählten sechs Reaktorsysteme sind in der Lage, das nur schwer spaltbare Uran-238 in leicht spaltbares Plutonium umzuwandeln. Die Fachleute sprechen hierbei von «brüten». Solche Brutreaktoren oder Schnelle Brüter haben den grossen Vorteil, dass sie bei der Energieproduktion mehr nutzbaren Kernbrennstoff erzeugen, als sie selber verbrauchen. Das beim Betrieb «erbrütete» überschüssige Plutonium lässt sich anschliessend als Kernbrennstoff in herkömmlichen Kernkraftwerken zur Stromproduktion verwenden. Damit wird der Energieinhalt von Natururan, das zu über 99 Prozent aus Uran-238 besteht, sehr viel besser ausgenutzt als heute.
Auf diese Weise reichen die Uranreserven der Erde beim heutigen Verbrauch für Zehntausende von Jahren. Zudem erzeugen Schnelle Brüter weniger radioaktive Abfälle als herkömmliche Kernkraftwerke. Diese Abfälle haben darüber hinaus den Vorteil, dass ihre Radioaktivität vergleichsweise rasch abklingt. Schnelle Brüter gibt es seit Jahrzehnten. Sie haben ihre grosstechnische Machbarkeit nachgewiesen, sind aber noch nicht kommerziell einsetzbar. Anlagen dieses Typs stehen derzeit nur in Russland in Betrieb: Belojarsk-3 (BN-600, 560 Megawatt) und Belojarks-4 (BN-800, 820 Megawatt).
Wasserstoff aus Kernenergie
Unter den vom GIF geförderten Reaktorsystemen ist der Höchsttemperatur-Reaktor besonders interessant. Neben Strom erzeugt er auch sehr viel Wärme, die für die thermochemische Produktion von Wasserstoff nutzbar ist.
Wasserstoff an sich ist keine Energiequelle, sondern muss erst unter beträchtlichem Energieeinsatz, wie beispielsweise mit der Prozesswärme des Höchsttemperatur-Reaktors, aus Wasser oder Erdgas gewonnen werden. Der Vorteil: Bei der Verbrennung von Wasserstoff – beispielsweise für den Antrieb von Automotoren oder in einer Hausheizung – entsteht kein CO2, sondern wiederum nur Wasser.
Im Wasserstoff steckt ein grosses Potenzial für eine künftige Energiewirtschaft, da er – anders als Strom – lagerbar ist. Ein Höchsttemperatur-Reaktor von der Grösse des Kernkraftwerks Leibstadt könnte zusätzlich zur Stromproduktion in einem Jahr so viel Wasserstoff liefern, dass über eine Million Brennstoffzellenautos damit je rund 15 000 Kilometer fahren könnten. Offen ist heute, ob sich solche Wasserstoffsysteme durchsetzen werden oder eher Autos mit Batterien, die direkt mit Strom aufgeladen werden.
Forschungsplattform der EU
Vor diesem Hintergrund hat die EU am 21. September 2007 die «Sustainable Nuclear Energy Technology Platform» lanciert (siehe rechte Randspalte). Die SNETP setzt sich über ein langfristiges Forschungs- und Entwicklungsprogramm für die nachhaltige Entwicklung der Kernenergie ein sowie für die Bewahrung und Stärkung der europäischen Führungsrolle in den Ingenieur- und Nuklearwissenschaften. Zudem will die SNETP Beiträge zu einer umweltfreundlichen und nachhaltigen Wirtschaft leisten und unterstützt daher auch die Produktion von synthetischen Brennstoffen und Wasserstoff auf der Basis treibhausgasfreier Quellen. Die dazu vorgeschlagenen Forschungsthemen umfassen:
- die weitere Optimierung der heutigen Kernkraftwerke zwecks Langzeitbetrieb;
- die Entwicklung fortgeschrittener Recyclingtechnologien zur Minimierung der radioaktiven Abfälle;
- die Inbetriebnahme zweier Schneller Brüter unterschiedlichen Typs bis 2025 sowie eines Hochtemperaturreaktors, mit dem neben Strom auch alternative Treibstoffe produziert werden können.